Konrad


In meinem Alter beginnt man allmählich, Rückschau zu halten auf das, was einst gewesen. Was mich umtreibt, sind vor allem die Dinge, die das Herz bewegt und mich in Unruhe versetzt haben. Wie mag es Konrad wohl gehen?
Fast dreißig Jahre haben wir nichts voneinander gehört. Jetzt sehe ich sein Gesicht deutlich vor mir, die störrischen braunen Haare, die graublauen Augen, sein verhaltenes Lächeln. Damals war er für mich das Maß aller Dinge.
Ich steige die Treppen zur Bühne hinauf und öffne die Tür. Dort lagert ein bunter Karton, gefüllt mit Briefen, mit denen Konrad sich einst die Finger wund geschrieben hat.
Soll ich wirklich darin lesen?
Heute ist mir danach, alte Wunden zu lecken. Die Zeit heilt sie nämlich nur manchmal.
Ich öffne den Karton und ziehe ein Kuvert heraus. Mir springt der von gelben Blüten umrahmte Absender ins Auge. Das war Konrads Heimatadresse.
‚Ruf doch einfach mal da an’, schießt es mir durch den Kopf. ‚Seine Mutter verrät dir bestimmt, wo er jetzt wohnt.’
So ist es. Bereitwillig gibt sie mir Auskunft.
Und jetzt?
Ich fahre hin in den Ort, in dem er lebt. Liebe Menschen weisen mir schnell den Weg zu dem Haus, das still und bescheiden unter
dem großen Kirchturm ruht. Ich stehe vor seiner Türe, starre auf das Namensschild und wage nicht, den Klingelknopf zu drücken.
Eine Frau steht plötzlich neben mir. Die Alte blickt mich freundlich an und sagt: „Drücket se no, dr Herr Pfarrer isch gwieß dohoim.“
Dann dreht sie sich um und schlurft vor sich hin plappernd davon.

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